Weimar – Kleener hamse´s wohl nischt?
Wir Deutschen sind ja gerne und bei fast jedem sich bietenden Anlass betroffen. Weimar bietet dazu jede Menge Gelegenheit, insbesondere dann, wenn auch noch das Wetter beschissen ist, wie an diesem Wochenende im März. Auf der Zugfahrt in die Hochburg des deutschen Kampfintellektuellen- und Gerontotourismus ergaben sich außer am Fenster herunterperlendem Regen wenig neue Erkenntnisse. Vielleicht die, dass dick beschmiertes Käsebrot mampfende Menschen in Zügen so mit das Unappetitlichste sind, was man so an Anblicken geboten bekommt. Auf Platz zwei und drei: nervöse Musikmitklopfer und Kniffelspieler (letztere gerne in geselligen Grüppchen). Weimar selber empfängt mit stöckelschuhunfreundlichem Kopfsteinpflaster auf dem Fußweg vom Bahnhof in die Innenstadt. „Sind Sie zum ersten Mal in Weimar?“ fragt die Hotelrezeptionistin. Man bejaht. „Na, dann wird es aber Zeit!“. Das wollen wir erst mal sehen! Das Hotel ist sehr komfortabel und da ich gerne meine Ruhe habe, ist ein von älteren Herrschaften besuchtes Haus, in dem man sich anschweigt, sehr in meinem Sinne. Ich brauche keine Geselligkeit auf Reisen, zumindest nicht die fremder Leute, die sich auf einmal mit mir unterhalten möchten. Beim Blick aus dem Zimmer nach draußen bietet sich ein ruhiger Nachmittag in gemütlicher Verdösung vor der Glotze an, gefolgt von einem Fernsehabend, so regnet es. Aber das geht natürlich nicht. 37 Jahre lang habe ich es nicht nach Weimar geschafft, in die Wiege unserer deutschen Kultur, da gibt es keine Ausreden für und erst recht keine dafür, hier wetterbedingt beim Sightseeing auf die Bremse zu treten. Nach kurzer Verschnaufpause im gar nicht so bequemen Hotelbett (warum sehen deutsche Hotelzimmer im Jahr 2015 eigentlich immer noch so piefig aus wie das Haus Erika in Bad Salzuflen 1970?) leiht man sich also einen Regenschirm an der Hotelrezeption – aber bitte zurückgeben! – und macht sich mit einem Stadtplan ausgerüstet an die systematische Abhakung diverser Sehenswürdigkeiten. Auf der Karte sind alle sehr und nicht ganz so sehenswerten Orte der Stadt (es sind unglaublich viele) mit Zahlen von 1 bis ca. 79 und Punkten eingezeichnet. Die Zuordnung der Punkte folgt dem Chaosprinzip. Punkt 2 liegt direkt zwischen 31 und 64, Punkt 3 irgendwo außerhalb der Stadt und Nummer 27 finde ich gar nicht. „Sohn, hier hast Du einen roten Stift, mal doch mal auf diesem Plan ganz viele lustige Punkte“, wird der Weimaraner Tourismusbeauftragte eines Tages zu seinem dreijährigen Sohn, hinter dessen Stirn sich allerdings für sein Alter erstaunlich wenig abspielte, gesagt haben. Durch eine Verkettung von Zufällen und Missverständnissen wurde dieser erste Entwurf dann tatsächlich mehrere hundert Millionen mal nachgedruckt und wird seitdem von den Tourismusbüros der Stadt eifrig verteilt, der Druck war ja schließlich bezahlt. Eine missliche kleine Anekdote, die für erstaunlich wenig Aufsehen sorgte und seitdem von der Stadt unter den Teppich gekehrt wird, in der Hoffnung, keinem möge dieses kleine Malheur auffallen. Die Punkteanordnung macht die sinnvolle Planung möglichst effizienter Anschauungsrundgänge bei strömendem Regen schwierig. Man beschließt, zunächst mit dem unmittelbaren Stadtzentrum anzufangen, da keine Wetterbesserung in Sicht ist und man dort gelegentlich ein bisschen zum Trocknen in einem Geschäft herumlungern kann. Ruckzuck ist das Deutsche Theater abgehakt und da ist auch schon der Marktplatz, auf dem heute Markt ist, was schön ist. Ein Gebäude, das ich unbedingt sehen wollte, ist das Hotel mit dem ungewöhnlichen Namen Elephant, von dessen Balkon Hitler einst herunterwunk, was ihm auch nichts nutzte. Die original Thüringer Bratwurst vom Bratwurststand schmeckt. Es hört nicht auf zu schiffen. Da ich in Begleitung einer schuhaffinen Dame reise, betreten wir ein Schuhgeschäft zwecks Informationssammlung über die neusten Modelle. Das Geschäft befindet sich im Schiller-Kaufhaus, einem lieblos zusammengeklatschten und an die üblichen Ketten vermieteten Investorengebäude, das den guten Schiller wohl im Grabe rotieren ließe, aber leider hat er keins. Nicht so richtig. Während die Dame nach Schuhen schaut, laufe ich in meinen (mit denen ich sehr zufrieden bin) auf und ab. Die Schuhe gefallen nicht und wir kaufen im Drogeriemarkt nebenan etwas Trostschokolade, ehe das Sehenswürdigkeitenbegucken weitergeht, denn momentan regnet es nur Kätzchen und Hündchen, um dieses schöne Bild aus der englischen Sprache einmal zu benutzen. In einem im Sommer bestimmt sehr schönen Park steht das Haus von Goethe. Als nicht sehr großer Literaturfreund fällt mir dazu als erstes ein: das Haus von Thomas Mann auf der Kurischen Nehrung fand ich deutlich schöner. Goethes Haus ist ein grau angepinselter Bau, ganz passend zur Wetterlage, der so aussieht, als hätte er auch 1962 in Nachkriegsdeutschland schnell hingesetzt worden sein gehabt können. Meine liebe Begleitung und ich sind beide Freunde eines oberflächlichen und zügigen Tourismus. Wir beschließen – und jetzt höre ich Sie, verehrte Leser, laut „Frevel, Frevel“ schreien, es beim Angucken von draußen zu belassen, da der Eintritt uns unangemessen erscheint und man zudem nicht sonderlich erfreut schien, uns im Goethehaus willkommen zu heißen. Ich will nett begrüßt werden! Durch den Park führt ein grauer (die Farbe zieht sich in Nuancen durch den Besuch) Weimaraner sein Herrchen spazieren und der Hund gibt dabei ein deutlich eleganteres Bild ab als das schon etwas in die Tage gekommene und leicht abgenutzte Herrchen. Weimar und seine Anhäufung von Geschichte und Kultur konfrontiert mich mit meinem gefährlichen Halb- und Nichtwissen. Ich bekomme ein kleines bisschen ein schlechtes Gewissen, denn alle Mittouristen scheinen sehr gebildet und belesen, haben scheinbar sämtliche Werke Goethes und Schillers, aller anderen deutschen Schriftsteller aller Epochen sowie sämtliche andere Literatur inklusive des Feuilletons der Zeit aller Jahrgänge inhaliert und gehen damit so ein ganz klein bisschen oberlehrerhaft hausieren. Ich kenne keine fünf Werke von Goethe und finde sein Haus auch nicht schön. So. Kann ich auch mit leben. Vielleicht kann ich mit meiner eigenen Kultur nicht sonderlich viel anfangen. Ich habe wahrscheinlich mehr kubanische Filme gesehen als deutsche „Klassiker“ gelesen. So what? Aber dieser Park durch den die Ilm sich schlängelt, also an einem sonnigen Sommertag ist der bestimmt eine Freude für die schon leicht getrübten Augen. Ein Besuch im Bauhaus-Museum steht noch an. An der Kasse sitzt zähnefletschend ein Thüringer Kampfdrachen mit Klobürstenfrisur, in etwas Minzfarbenes gesteckt. „Kleener hamse´s wohl nischt?“ faucht die Dame (zumindest nahm ich nach längerer, vorsichtiger Betrachtung an, es könnte sich um eine handeln) mich an, als ich ihr einen 10 Euro-Schein für 8 Euro Eintritt überreiche, nicht, wie man denken könnte, einen 500 Euro-Schein. Nein, kleiner habe ich es nicht und Lust auf das Museum habe ich plötzlich auch schon gar nicht mehr. Dennoch drehen wir ein Ründchen zwischen konzeptlos zusammengestellten Stühlen zwischen Schwarzweißfotos und sich mir nicht erschließenden Bauhaus-Propagandapamphleten. Man muss wohl Architekturaficionado sein und zusätzlich vielleicht berauschende Substanzen zu sich nehmen, um dieser Rumpelkammer etwas abgewinnen zu können. Der Höhepunkt des Tages ist erreicht, als ich mir beim abendlichen Lauf auf dem Hotellaufband, ohnehin nichts, was mir große Lust bereitet, eher ein zwanghafter Akt der Formerhaltung, als ich mir also auf diesem Laufband an der sehr niedrigen Decke den Kopf stoße. Ich weine mich in den Schlaf, auch die wirklich fürsorgliche Begleitung kann meine bewölkte Laune nicht bessern, und bedaure inständig, nicht noch etwas länger mit einem Weimarbesuch gewartet zu haben. Vielleicht bis zum Stadium einigermaßen fortgeschrittener Demenz.
Was ich aber eigentlich sagen wollte: auf dem Marktplatz von Weimar hängt – ulkig oder? – dieser englische Briefkasten. Die reizenden Bürger von Stratford-upon-Avon packte das Mitleid, als sie die knallgelben deutschen Briefkästen sahen, die auch in Weimar nicht gerade eine Freude fürs Auge sind, auch wenn man sie leicht übersehen kann und schnell findet. „Schenken wir ihnen doch einen Briefkasten!“. Gesagt, getan! Dieses schöne rote Exemplar britischer Provenienz ist tatsächlich im Gebrauch. Wer genau hinsieht, wird erkennen: „Next collection: Montag“. Ein hübscher Briefkastenhybrid!